RINEKE DIJKSTRA
Der Traum eines Sommers
Das Meer, ein Blick direkt in die Kamera. An verschiedenen Stränden der Welt – in Polen, Großbritannien, der Ukraine, den USA. Die Künstlerin Rineke Dijkstra zeigt junge Menschen, einfühlsam und authentisch inszeniert.
Vom 13. Dezember 2024 bis 18. Mai 2025 präsentiert das Städel Museum Frankfurt in einer Einzelausstellung Arbeiten der niederländischen Fotografin. Davon 23 Bilder aus der Beach Portraits Serie, die sie in den 1990er Jahren international bekannt machte. Sie ist eine der wichtigsten Fotografinnen der Gegenwartskunst.
Ich bin Rineke Dijkstras Arbeiten erstmals im Studium begegnet und war von ihrer Eindringlichkeit fasziniert. Ihre Figuren stehen vor dem Hintergrund des Meeres, tragen nur wenig Kleidung. Sie wirken zeitlos und auf das Wesentliche reduziert: ihr Wesen und ihre jugendliche Natürlichkeit.
Sie inszeniert die jungen Menschen einfühlsam in frontaler Pose, wie freistehende Skulpturen. Der erwiderte Blick ermöglicht eine direkte Begegnung zwischen Betrachter und Porträtiertem, ohne dass in diesem intimen Moment ein voyeuristischer Effekt entsteht. Die Haltung der Jugendlichen zeigt Gelassenheit und Selbstbewusstsein. Doch gleichzeitig verrät ihre Mimik ihre Gefühlswelt zwischen Unsicherheit und Neugier.
Rineke Dijkstra kreiert Portraits mit denen wir uns identifizieren können. Sie lässt uns in der Zeit zurückreisen: In jenen Sommer, in dem die Kindheit endete und das Erwachsenwerden begann. Eine Zeit, in der Erfahrungen zum ersten Mal gemacht werden: Freundschaft, Liebe und der Wunsch nach Unabhängigkeit. Eine Zeit auf der Suche nach der eigenen Identität.
Wie in einem Fotostudio ist der Hintergrund des Meeres immer gleich. Nur das Wetter und die Elemente der Landschaft verändern sich und prägen die Bildkomposition. Doch Rineke Dijkstra zeigt auch die Vergänglichkeit dieses Moments und den Einfluss der Zeit auf ihre Figuren. Ein kurzer Moment der von der nächsten Welle weggespült wird.
Almerisa
Rineke Dijkstra lernte das Mädchen Almerisa 1994 in einer Flüchtlingsunterkunft in Leiden, in den Niederlanden, kennen. Sie portraitierte sie über 14 Jahre. Almerisa war damals fünf Jahre alt und erst zwei Wochen zuvor mit ihrer Familie aus Bosnien geflüchtet. Die Serie dokumentiert in elf Bildern die persönliche Entwicklung des Mädchens von der Kindheit über ihre Jugend bis ins Erwachsenenalter. Wir sehen sie immer gleich inszeniert in einem Raum auf einem Stuhl sitzend.
Die Bilderserie zeigt, wie sich das kleine, schüchterne Mädchen in ihre neue Umgebung einfindet, wie sie in einer modernen Gesellschaft heranwächst. Die äußerlichen Veränderungen in Kleidung und Einrichtung dokumentieren und unterstreichen ihre Entwicklung zu einer selbstbewussten Frau und Mutter.
Rineke Dijkstra, Almerisa, March 14, 1994 — June 19, 2008, MoMa New York, © 2024 Rineke Dijkstra
Der fotografische Moment
Die Arbeiten der Künstlerin sind in den 1990er und 2000er Jahren als analoge Fotografien entstanden. Sie nutzte zum Fotografieren eine Großformatkamera und einen Aufhellblitz. Ein zeitaufwendiges und langsames Fotografieren. Durch die technisch bedingte Entschleunigung entspannten sich die Porträtierten im Laufe der Zeit immer mehr. Sie verloren das Bestreben, ihre Erscheinung vor der Kamera zu kontrollieren. Bei den Beach Portraits konzentrierte sich Rineke Dijkstra stark auf die Silhouetten der Jugendlichen und bat sie als einzige Anweisung darum, nicht zu lächeln.
Sie näherte sich ihren Motiven in zwei Schritten: Zuerst betrachtete sie die Person durch den Sucher der Kamera. Dabei erschien das Bild auf der Großformatkamera auf dem Kopf. Emotionen und Mimik waren schwieriger zu erkennen, stattdessen stand die Komposition des Bildes im Vordergrund. Das fotografische Ergebnis war für die Künstlerin aufgrund der analogen Technik erst nach der Entwicklung der Bilder sichtbar.
Für Rineke Dijkstra war der Moment entscheidend, in dem beim Fotografieren Licht, Farbigkeit und Bildaufbau zusammenkommen und der sich dennoch ihrer vollständigen Kontrolle entzieht.
„Rineke Dijkstras Porträts könnten gegenwärtiger nicht sein.”
Es gelingt ihr, sich dem Wesen des Menschen auf einfühlsame Weise anzunähern. Ihre Protagonisten sind Menschen, die — über kulturelle Grenzen hinweg — nicht nur auf der Suche nach ihrer Identität sind, sondern die alle eine Frage verbindet: Wie sehe ich mich selbst und wie möchte ich von meiner Umwelt wahrgenommen werden?
„Es ist dieses empathische, allzu menschliche Moment, das in Dijkstras Arbeiten zum Ausdruck kommt und sie damit so zeitlos macht“, ergänzt Maja Lisewski, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Sammlung Gegenwartskunst und Kuratorin der Ausstellung. Ihre Arbeiten finden sich nahtlos in die Erzählungen der heutigen Zeit ein, in der die Selbstdarstellung durch soziale Medien allgegenwärtig ist.
Dennoch steht bei aller jugendlichen Natürlichkeit auch die Frage nach Wahrheit und Unverfälschtheit im Raum. Die dokumentarischen Ortsangaben schaffen einen Moment der Authentizität und werden gleichzeitig zu Zeugen der Vergänglichkeit: Der Urlaubsort Jalta aus dem Porträt von 1993 liegt heute in der von Russland kontrollierten Autonomen Republik Krim. In der Ukraine herrscht seit Februar 2022 Krieg. Die Inszenierung am Strand wird zum Traum eines Sommers, an den man sich zurück fühlen kann, wenn das Leben zu sehr erwachsen sein muss.
Über die Künstlerin
Rineke Dijkstra wurde 1959 in Sittard in den Niederlanden geboren. Sie lebt und arbeitet in Amsterdam, wo sie von 1981 bis 1986 an der Gerrit Rietveld Akademie studierte. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Hasselblad Foundation Award 2017 und den Johannes Vermeer Award 2020.
Ihre Arbeiten sind in bedeutenden internationalen Sammlungen vertreten, darunter das Stedelijk Museum in Amsterdam, das Museum of Modern Art in New York, das Art Institute of Chicago, das MACBA in Barcelona, das Centre Georges Pompidou in Paris, das Metropolitan Museum of Art in New York, die Tate Modern in London und das Städel Museum in Frankfurt am Main. Ihre Werke wurden in umfangreichen Einzelausstellungen präsentiert, unter anderem in der Berlinischen Galerie, Berlin (2024), im Lehmbruck Museum, Duisburg (2022), im Rijksmuseum, Amsterdam (2019), im Louisiana Museum of Modern Art, Humlebaek (2017), im Museum für Moderne Kunst (MMK), Frankfurt am Main (2013) und im Solomon R. Guggenheim Museum, New York (2012).