CHAGALL. WELT IN AUFRUHR.

Marc Chagall, Die Lichter der Hochzeit, 1945, Öl auf Leinwand, 123 x 120 cm, Kunsthaus Zürich, © Kunsthaus Zürich, Geschenknachlass Ernst Göhner, 1973 © VG Bild-Kunst, Bonn 2022, Foto: 2020, ProLitteris, Zurich

Ein Poet der Moderne

Marc Chagall (1887–1985) gilt als Poet unter den Künstlern der Moderne. Wir kennen Chagall mit seinen leuchtenden und farbenfrohen Bildwelten. Schwebende Figuren und Tiere, traumhafte Zirkuswelten. Er gilt als einer der berühmtesten Künstler der europäischen Moderne und lässt sich zugleich keiner kunsthistorischen Stilrichtung oder Epoche eindeutig zuordnen.

Marc Chagall wurde 97 Jahre alt und sein Leben umfasste Stationen in Russland, Frankreich, Deutschland und den USA, er erlebte zwei Weltkriege, Exil und immer wieder Neuanfänge. Die SCHIRN Kunsthalle widmet sich mit der Ausstellung CHAGALL. WELT IN AUFRUHR. einer Schaffensphase des jüdischen Malers, die bislang nur wenig Beachtung fand: seine Arbeiten der 1930er und 40er Jahre. Diese Zeit ist stark von den politischen Ereignissen in Europa und Chagalls eigener Lebensgeschichte dominiert. Seine farbenfrohe Palette verdunkelt sich. Er flieht vor den Nationalsozialisten und emigrierte 1941 in die USA. Chagall versucht in dieser Zeit immer wieder eine visuelle Bildsprache für die politischen Ereignisse und seine eigene Lebensgeschichte zu finden. Beide Jahrzehnte sind geprägt von Verlust, Erinnerungen und Exil, sowie der Frage nach Identität und Heimat.


Wer war Chagall?

Chagall in den 1920er Jahren, Foto: Pierre Choumoff

Um Chagalls Werke der 1930er und 40er Jahre zu verstehen, muss man fragen: Wer war Chagall? Und was bedeutete es Anfang des vergangenen Jahrhunderts jüdisch zu sein?

Marc Chagall wird 1887 als Moische Schagall im damals russischen Witebsk geboren, dass heute zu Belarus gehört. Er ist das älteste von neun Kindern einer jüdisch orthodoxen Arbeiterfamilie. Witebsk zählt damals rund 66.000 Einwohner, von denen die Hälfte jüdisch sind. Und dennoch bleibt der jüdischen Bevölkerung durch die anti-jüdischen Gesetze, die das Wohn- und Arbeitsrecht der Jüdinnen und Juden bestimmen, ein selbstbestimmtes Leben verwehrt.

Chagall zieht 1906 mit einer gesonderten Aufenthaltsgenehmigung nach St. Petersburg, der damaligen Hautstadt des russischen Reichs, und studiert bis 1908 an der liberalen Malschule der Kaiserlichen Gesellschaft zur Förderung der Künste.

1910, im Alter von 23 Jahren, verlässt Chagall erstmals seine Heimat und geht nach Paris. Die französische Metropole ist im frühen 20. Jahrhundert eine wichtige Station für Künstler und Künstlerinnen aus dem Kaiserreich Russlands. Sie ist Inbegriff kreativer Freiheit, insbesondere für die jüdische Bevölkerung, der in Russland oft der Zugang zu Universitäten und Bildung verwehrt wird. Auch brechen die Künstlerinnen und Künstler hier mit der jüdischen Tradition des Bilderverbots, das die Darstellung von Menschen verbietet, und wenden sich der figurativen Kunst zu.

In Paris lebt Chagall in einer Künstlerkolonie und wird von Kubismus und den expressiven Farben des Fauvismus beeinflusst. Er studiert Maler wie Gaugin und Van Gogh in Museen und Ausstellungen. Während eines Heimatbesuchs in Witebsk im Jahr 1914 bricht der Erste Weltkrieg aus und Chagall kann nicht nach Paris zurückkehren. Ein Jahr später heiratet er Bella Rosenfeld in Witebsk, die er bereits vor seiner Zeit in Paris kennenlernte. Sie siedeln nach St. Petersburg um, wo 1916 ihre Tochter Ida geboren wird.


Marc Chagall, Die Seele der Stadt, 1945, Öl auf Leinwand, 107 x 82 cm, Centre Pompidou, Paris, Musée national d’art moderne /Centre de création industrielle, Schenkung des Künstlers, 1953, © VG Bild-Kunst, Bonn 2022, Foto: bpk / CNAC-MNAM

Marc Chagall, Der schwarze Handschuh, 1923–1948, Öl, Tempera und Tusche auf Leinwand, 111 x 81,5 cm, Privatsammlung, © VG Bild-Kunst, Bonn 2022, Foto: Archives Marc et Ida Chagall


Jüdische Identität

In seiner Jugend hat Chagall ein gespaltenes Verhältnis zum jüdischen Glauben, der jüdisch-russischen Kultur und ihren Traditionen. Erst als er 1914 aus Paris nach Witebsk zurückkehrt, findet Chagall zu seinen jüdischen Wurzeln zurück. Ein Besuch in Palästina 1931 und seine spätere Zeit im Exil verstärken diese Identifizierung. In seinen Arbeiten der 1930er Jahre lässt sich eine intensive Auseinandersetzung mit der eigenen jüdischen Identität feststellen. So finden sich in seinen Werken immer wieder jüdische Motive: ein Mann mit Gebetsmantel, die Darstellung der Thora, hebräische Schriftzeichen, die Geige als Symbol jüdisch-russischer Kultur.

Marc Chagall, Einsamkeit, 1933, Öl auf Leinwand, 102 x 169 cm, Collection Tel Aviv Museum of Art, Schenkung des Künstlers, 1953, © VG Bild-Kunst, Bonn 2022, Foto: Tel Aviv Museum of Art


Zurück in Paris

Nach Ende des Ersten Weltkrieges reist Chagall 1922 mit seiner Familie für mehrere Monate nach Berlin. Hier erlebt er die zunehmend aggressive und antisemitische Stimmung. Im darauffolgenden Jahr kehrt er mit Bella und Ida nach Paris und später in die Bretagne zurück. In dieser Zeit hat Chagall erste internationale Erfolge und zeigt seine Arbeiten in Ausstellungen in New York, Köln, Brüssel, Paris und Basel. Als 1939 der Zweite Weltkrieg ausbricht zieht Chagall mit seiner Familie nach Südfrankreich, um sich eine vermeintlich größere Sicherheit vor einer möglichen Verhaftung und Deportation zu verschaffen. 

Doch während eines Aufenthalts 1941 in Marseille wird Chagall bei einer Polizeirazzia festgenommen. Seine Auslieferung konnte durch die Intervention eines Kontakts in den USA nur knapp verhindert werden und mit Hilfe einer Einladung des Museums of Modern Art in New York bricht Chagall mit seiner Familie per Schiff von Frankreich in die USA auf. Zu diesem Zeitpunkt ist er 54 Jahre alt.


Marc Chagall, Der Engelssturz, 1923/1933/1947, Öl auf Leinwand, 147,5 x 188,5 cm, Kunstmuseum Basel, Depositum aus Privatsammlung, © VG Bild-Kunst, Bonn 2021, Foto: Martin P. Bühler


Exil in den USA

Das Exil in den USA bringt Chagall und seiner Familie Sicherheit, jedoch ist er zu dieser Zeit wenig finanziell erfolgreich. Erst der Auftrag zur Gestaltung des Bühnenbildes und der Kostüme für das Ballett „Aleko“ nach der Musik von Tschaikowski und Strawinskys „Feuervogel“ verschaffen ihm ein regelmäßiges Einkommen. Er setzt sich erneut mit der russischen Kultur auseinanderzusetzen.

1944 wird Frankreich befreit. Chagall und seine Familie schöpfen Hoffnung auf ein Ende des Krieges und eine Rückkehr nach Europa. Doch im September erleidet Bella einen Virusinfekt und verstirbt. Bellas plötzlicher Tod stürzt Chagall in eine tiefe Trauer, die es ihm unmöglich macht, zu arbeiten.

Seine Schaffenskrise hält beinahe ein Jahr an. Spätere Arbeiten zeigen die tiefe Verbundenheit des Ehepaares, die sich durch die Erinnerung an die gemeinsame Zeit in Witebsk und die Trauer um die zerstörte Heimat im Exil intensiviert hat. Bella war Chagalls Jugendliebe, Muse und intellektuelle Verbündete. Mit ihrem Tod reißt für ihn auch die letzte Verbindung nach Witebsk ab. Erst 1948 kehrt Chagall nach Paris zurück.


Marc Chagall, Der Traum, ca. 1938/39, Gouache auf Papier, 39,7 x 49,5 cm, The David and Alfred Smart Museum of Art, The University of Chicago, Schenkung von Lee und Suzanne Huston Ettelson, © VG Bild-Kunst, Bonn 2022, Foto: 2022 courtesy of The David and Alfred Smart Museum of Art, The University of Chicago


Mit CHAGALL. WELT IN AUFRUHR. ermöglicht die SCHIRN Kunsthalle eine neue und äußerst aktuelle Perspektive auf das Œuvre eines der wichtigsten Künstler des 20. Jahrhunderts. Die Ausstellung ist vom 04. November 2022 bis 19. Februar 2023 zu sehen. Das Team aus Kunstvermittlern und Kunstvermittlerinnen führt dich an folgenden Tagen durch die Ausstellung: Diens­tags 17 Uhr, Mitt­wochs 19 Uhr, Donners­tags 20 Uhr, Frei­tags 11 Uhr, Sams­tags 17 Uhr, Sonn­tags 11 und 16 Uhr.


 
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